Das Leben ist eine feine Sache

„Bin ich meschugge? Bin ich verrückt?“ Diese Fragen stellte der Holocaust-Überlebende Abba Naor während seines Zeitzeugenberichts am 18.01.2018 den Schülern der neunten Jahrgangsstufe. „Ist es nicht verrückt, seit 20 Jahren immer und immer wieder vor Schulklassen die eigene Geschichte zu erzählen? Ist es nicht verrückt, zu Hause zwei volle Kühlschränke zu haben und die Enkel bei jedem Besuch zu fragen, ob sie schon gegessen haben, obwohl ich weiß, dass sie bereits gegessen haben? Irgendetwas bleibt hängen. Ich lebe mit dieser Vergangenheit. Es ist meine Geschichte. Ob meine Seele ganz ist, weiß ich nicht.“
Abba Naor hat es sich zur Aufgabe gemacht, seine Geschichte zu erzählen - stellvertretend für Millionen von Menschen, die niemand gesehen und niemand gehört hat und die niemals jemand hören wird. Er will mit seiner Geschichte daran erinnern, dass diese Menschen nicht vergessen werden dürfen.
Es war vollkommen still, als Abba Naor von seiner glücklichen Kindheit in Kaunas/Litauen vor dem Zweiten Weltkrieg erzählte, vom Leben seiner Familie im jüdischen Ghetto nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, der Deportation in das Konzentrationslager Stutthof, dem Tod seiner Mutter und seiner beiden Brüder, den Schikanen in einem Außenlager des KZ Dachau in Utting am Ammersee, dem Todesmarsch von Kaufering nach Bad Tölz, dem Treffen mit seinem Vater drei Monate nach der Befreiung. Abba Naor erzählte vom Hunger und von der Angst, die noch größer als der Hunger war, von der Ungewissheit, ob man diejenigen, die man noch am Morgen getroffen hatte, auch am Abend wiedersehen würde, von der traurigen Gewissheit, dass auf jeden Befehl ein weiterer Befehl folgte, der den vorherigen an Grausamkeit übertraf.
Abba Naor richtete seine Worte immer wieder direkt an die jungen Menschen: „Bleibt Kinder, solange es geht. Es pressiert doch nicht, erwachsen zu werden.“ „Nutzt das Privileg, zur Schule zu gehen und zu lernen. Ich weiß, wie es ist, nicht lernen zu dürfen.“ „Lauft nicht den falschen Propheten nach. Das Leben ist eine feine Sache. Verzichtet nicht darauf. Man bekommt es nur einmal geschenkt, nicht mehr.“
Lang andauernder Applaus bekundete den großen Respekt gegenüber dem fast 90-jährigen Abba Naor, der bereits zum zehnten Mal an das Dom-Gymnasium gekommen war.