Weltweit sind derzeit über 50 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Terror, Verfolgung, Hunger oder Naturkatastrophen. Sie sehen sich aus politischen, religiösen oder ethnischen Gründen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen in der Hoffnung auf ein friedliches Leben anderswo. Auch die Bibel ist voll von solchen Geschichten. Die Fluchtgeschichten von Abraham, Jakob, Mose und David im Alten Testament sowie die Fluchtgeschichte der Familie von Jesus nach Ägypten im Neuen Testament deuten an, dass Flucht und Vertreibung Konstanten in der Menschheitsgeschichte sind.
Anhand ausgewählter Texte wurden in dem Seminar unter der Leitung von Stephanie Rebbe-Gnädinger Flucht(hinter)-gründe, Fluchtwege und -verläufe sowie deren Auswirkungen auf das Glaubens- und Selbstverständnis der Menschen erarbeitet. Fluchtgeschichten aus der Bibel fanden dabei ebenso Berücksichtigung wie Romane des 21. Jahrhunderts, z.B. Linda Sue Parks „Der lange Weg zum Wasser“, „Sommer unter schwarzen Flügeln“ von Peer Martin, „33 Bogen und ein Teehaus“ von der iranischen Autorin Mehrnousch Zaeri-Esfahani, der Roman „Die Piroge“ des senegalesischen Autors Abasse Ndione oder die Graphic Novel „Der Traum von Olympia“ von Reinhard Kleist. Dabei wurden die am Seminar Teilnehmenden vertraut gemacht mit den Grundbegriffen der Analyse und Interpretation von erzählenden Texten sowie mit den Besonderheiten der (Bild-) Sprache in der grafischen Literatur. Zugleich gewannen sie einen Einblick in das wissenschaftspropädeutische Arbeiten.
Eine Fülle an Veranstaltungen in Freising und Umgebung bereicherte zusätzlich den Unterricht in dem W-Seminar: eine Autorenlesung mit Rasha Khayat im Schafhof, ein Vortrag zu „Fluchtursachen made in Europe“ mit Stefan Rostock im Kardinal-Döpfner-Haus, die Filmvorführung „Willkommen bei den Hartmanns“ im Moosburger Kino sowie die Ausstellung „Refugees“ mit Fotografien von Herlinde Koelbl im Münchner Literaturhaus.
Zu realisieren, dass sich hinter allen Fakten und Zahlen zur Flüchtlingsdebatte Menschen mit unverwechselbaren Erinnerungen und Erfahrungen verbergen, ist keine vom Kopf her zu steuernde Angelegenheit. Es braucht die unmittelbare Begegnung im Hier und Jetzt. Hierzu bot sich dem W-Seminar eine einmalige Gelegenheit. Ein 16-jähriger Geflüchteter aus Afghanistan erzählte im Seminar – unterstützt von seiner Freisinger Pflegemutter – von seiner Flucht aus dem Iran quer durch die Türkei, durch Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich – zu Fuß, mit dem Bus, Boot und Zug unter teilweise extremen Bedingungen. Tief beeindruckt zeigten sich die Zuhörenden von dem durch Kartenmaterial sorgfältig dokumentierten Bericht.
Das W-Seminar sensibilisierte die Lernenden auf vielfältige Weise auch für die Schicksale der derzeit in Deutschland Zuflucht suchenden Menschen und trug zu einer differenzierteren Betrachtung eines unsere Gesellschaft in vielerlei Hinsicht herausfordernden Themas bei.